Von Ups-Würfen & Rassewahnsinn

Aufgrund der Bedeutung des Themas sowie der umfangreichen, positiven Resonanz auf unserer Facebook-Seite veröffentlichen wir unseren dort geteilten Beitrag vom 10. Februar 2020 auch an dieser Stelle.

EIN UPDATE ZU ANTON AM ENDE DES INFO-TEXTES

Unser Neuzugang Anton ist ein Golden Retriever, wie er im Buche steht! Nur handelt es sich dabei nicht um das Kapitel „Rassestandard“, sondern eher um einen Text über „Hunderassen als Modeerscheinung und daraus resultierende verheerende Folgen“.

Wir haben Anton nicht genau vermessen, würden uns aber nicht wundern, wenn das Verhältnis von Körperlänge, gemessen vom Brustkorb bis zur Schwanzwurzel, zur Widerristhöhe perfekte 10:8 beträgt. Kräftig ist er, sein Gesichtsschädel ausdrucksstark, sein güldenes Haar ist perfekt gewellt und glänzt von Natur aus wie nach einer zu gut gemeinten Kokosöl-Kur. „Unglaublich gut gelungen“ könnte man meinen! Shows könnte der laufen! Oder wieso nicht gleich die schönsten Welpen zeugen, die jemals gesehen wurden?

Auf den ersten Blick scheint Anton der perfekte Golden Retriever zu sein. Im Kleinanzeigenportal würde man sich nur anhand seines Bildes (und was anderes zählt dort doch auch nicht, oder?) direkt die Finger nach ihm lecken und ohne lang rumzudrucksen fragen: „Letzte Preis?“.
Ja, in Sachen Optik bekäme Anton wohl auf jeder Ausstellung Bestnoten. Sollte die Jury ihn aber näher kennenlernen wollen, könnte man die schon vorausgefüllte Siegerurkunde getrost in den Reißwolf schieben.
Denn Anton ist, anders als vom FCI gefordert, nicht unglaublich „freundlich, liebenswürdig und zutraulich“. Viel eher trifft es unsagbar „unsicher, ängstlich und verloren“.
Er würde sich vermutlich nicht über Einbrecher freuen und ihnen schwanzwedelnd dabei helfen, sämtliche Wertsachen aus dem Haus und ins bereitgestellte Fluchtfahrzeug zu tragen. Er würde sich garantiert hinterm Vorhang verstecken, die Augen feste zukneifen und sich an einen weit entfernten Ort wünschen. Und sollte der Einbrecher versehentlich doch sein Versteck lüften, würde Anton ihm vor lauter Verzweiflung großen körperlichen Schaden zufügen. Und nein, ein erschrockenes „Das hat er noch nie gemacht!“ träfe bei ihm nicht einmal zu.

Falls sich jemand fragt, was das Wort „wesensfest“ eigentlich bedeutet, könnte man von Anton eine Menge lernen. Als „So nicht“-Beispiel und mit Ausschlussverfahren.
Anton zog vergangenen Samstag bei uns ein, da von ihm in seiner Familie (mindestens) vier Beißvorfälle ausgingen. Einer richtete sich vollends erfolgreich gegen den Zweithund, einen Yorkshire Terrier, welcher unglücklich nah an Futterkrümeln stand und nun eliminiert ist. Drei weitere galten – und das nicht zu knapp – Antons Herrchen. Immer waren dabei Ressourcen jeglicher Art involviert.
Seit Samstag – seit über 48 Stunden – hat sich Anton keinen Millimeter von seinem Fleck im Tierheimzwinger wegbewegt. Nicht in der Nacht, nicht während Sturm oder Regen. Er liegt dort, zittert wie die Bäume im Sturmtief Sabine, reagiert kaum auf Ansprache und wenn dann mit viel Weiß in den Augen. Gefressen hat er ebenfalls noch nicht.
Nun liegt die Sache klar auf der Hand: Die Besitzer müssen schuld sein! Der arme, arme, arme Hund! Was der wohl schon alles erleben und -tragen musste! Schnappatmung! Tierschutz!

Überraschung: Anton lebte mit engem Familienanschluss im Haus. Bis zu dem genannten Vorfall sogar als Zweithund. Seine Menschen hatten bereits vorher Hunde, waren sicherlich keine qualifizierten Hundetrainer, aber geschätzt auch eher vom Typ „Gar nicht mal übel“. Anton hatte sein Körbchen im Schlafzimmer und ging täglich vier Mal Gassi. Herrchen hatte das lange mit ihm geübt und fuhr mit ihm im Auto an abgelegene Plätze, spielte mit ihm, kuschelte ihn und brachte ihm das kleine Hunde-ABC bei. So sind beispielsweise der Rückruf, „Sitz“ und „Leg dich hin“ bekannte Signale für Anton, die er auch souverän umsetzte.

Was ist also genau passiert?

Anton ist natürlich kein Medienstar und sein Leben wurde nicht ununterbrochen mit der Kamera festgehalten, geschweige denn auf einem eigenen Instagram-Profil tagesaktuell dokumentiert. Dennoch lässt sich ein grober Teil seines Lebens nachvollziehen.
Geboren wurde Anton im April 2018. Als kleiner Knopf im Welpenalter wurde er dann im Sommer desselben Jahres von seiner neuen Menschenfamilie abgeholt. Augenscheinlich war er lange genug mit seinen Geschwistern und seiner Mutter zusammen gewesen.
Jedoch: Schon bei der Abholung streckte Anton nicht, wie es Welpen typischerweise tun würden, seinen Menschen neugierig den Rüssel entgegen. ER versteckte sich stattdessen hinter der Hundehütte. Ihm fiel es von Anfang an enorm schwer, sich auf neue Dinge einzulassen. Ihm fiel einfach keine Taktik ein, wie er auf Neues zugehen könnte. Als die für ihn lohnenswertere Alternative entdeckte Anton die Flucht: Sich klein machen, ducken, verstecken und darauf hoffen, nicht bemerkt zu werden.
Antons Selbstvertrauen lag – und liegt immer noch – bei NULL. Und das auch nur dann, wenn man großzügig ist und eine Skala ohne Minusbereich zu Rate zieht.

Das Verhalten eines Tieres formt sich auch – aber bei Weitem NICHT NUR – durch Erlerntes, durch positive bzw. negative Erfahrungen. Es ist jedoch ebenfalls und zwar zu einem nicht unerheblichen Teil bereits genetisch vorgegeben. Deshalb gibt es Rassebeschreibungen, die sich neben äußerlichen Oberflächlichkeiten (wie Winkel der Ohren, Augenabstand oder Kräuselungsgrad der Lockenpracht) auch mit dem WESEN der Tiere beschäftigen.
Ein GUTER Züchter weiß das und legt deswegen Wert auf die Charakterzüge seiner Zuchttiere, damit die Nachkommen einen möglichst guten Start ins Leben haben und zu souveränen Individuen heranwachsen können.
Jetzt wäre es ein Leichtes, Anton als das schwarze Schaf der Familie zu betiteln. Jedoch fehlte bei ihm offensichtlich die Rücksicht auf Wesen und Verhalten. Zu oft werden, besonders bei beliebten und stark nachgefragten Rassen, die Charaktereigenschaften außen vor gelassen. Viel wichtiger erscheint, dass Mutti lange Wimpern und Papi muskulöse Schultern hat. Da ist es doch völlig egal, dass Mami ihre Welpen nur bis zur vierten Woche erträgt und danach rabiat wegbeißt und Papi bei jeder Kleinigkeit an die Decke geht („Sie haben halt Temperament!“).

Mit Moderassen (und übrigens auch mit Mitleid) lässt sich Geld machen, denn die Nachfrage ist hoch und gute Züchter kommen gar nicht so schnell hinterher, wie der Durchschnittsbürger sich plötzlich einen braunen… ach nee… besser einen silbernen Labrador, einen Merle-Mix von Egal-welcher-Rasse, eine garantiert nicht „freiatmende“ Plattnase (selbst wenn es im Beschreibungstext großzügig vermerkt wurde) oder einen „nur leicht durchgeknallten“ a.k.a. lebenslustigen, bedingungslos „Familie-mit-Kind-geeigneten“ Terrier wünscht.
Eigentümer von Hinterhöfen und maroden Kellerlöchern reiben sich die schmierigen Hände und wittern das große Geschäft: Einmal ein Muttertier angeschafft, wild mit einem „garantiert decksicheren“ aber niemals zur Zucht zugelassenen Kleinanzeigen-Rüden verpaart und schon klingelt es in der Kasse.
Die Sozialisierungs- und Gewöhnungsphase, die in den ersten Wochen so unglaublich wichtig ist, wird oft vernachlässigt oder erst gar nicht angegangen. Darum können sich die neuen Besitzer schließlich ebenso gut allein kümmern wie um Impfungen und Chip. Dass früher oder später IMMER das Tier das Leid tragen muss, wird oft kaum wahrgenommen, nicht hinterfragt oder komplett ausgeblendet.

Was kann man tun?

Für den blutjungen Anton können wir im Tierheim recht sicher keine Wunder bewirken. Kleine Übungen zum Aufbau des Selbstbewusstseins, positives Ressourcen- und Maulkorbtraining sowie allgemein möglichst gute Erfahrungen sammeln lassen stehen für ihn auf dem lockeren Stundenplan, der hier aber schon wegen mangelnder Zeit- und Personalressourcen eher für das gute Gewissen ausgedruckt und angepinnt wird.
Mit seiner genetischen Erbmasse, seinen bereits geschehenen Beißvorfällen und dem damit verbundenen gefährlichen Stempel im Pass wird sich Anton Zeit seines Lebens arrangieren müssen.

Aber wir können an euch, nicht zuletzt um euretwillen, mit aller Nachdrücklichkeit appellieren:
1. Vermehrt nicht einfach spontan Tiere, „weil einmal Welpen sein müssen“, die Geldbörse sich gerade so leer anfühlt oder ihr einfach einen wunderschönen Hund habt, von dem ihr unbedingt einen Nachkommen selbst behalten wollt.
Wer züchtet oder vermehrt, hat Verantwortung – Sowohl für die Tiere wie auch ihre neuen Besitzer und vor allem für die eigenen Taten.
2. Informiert euch intensiv, woher ihr eure Hunde holt. Sucht einen seriösen Züchter, der euch die Elterntiere (in live, Farbe und in freundlich) zeigt. Achtet auf die Welpen. Ein (psychisch) gesunder Welpe sollte Entdeckergeist aufweisen, kaum Berührungsängste haben und fröhlich mit seinen Geschwistern durch die Gegend hopsen.
Natürlich freuen wir uns auch, wenn ihr euch im Tierheim beraten lasst und zusammen mit den Mitarbeitern schaut, ob dort ein Hund euren Anforderungen entspricht, dem ihr gleichzeitig auch selbst gerecht werdet.
3. Falls ihr an einen nicht wesensfesten Hund geratet: Seid euch im Klaren darüber, dass der gemeinsame Weg sehr lang, steinig, traurig und eventuell auch gefährlich sein kann. Es gibt so viele – auch sehr gute – Hundetrainer da draußen, die euch als Team dabei helfen können, eure Probleme anzugehen.

Text: Antonia Freist & Miriam Apel

NACHTRAG AM 15. Februar

Antons Familie hat die Tage ohne ihn genutzt, um etwas durchzuatmen, zu reflektieren und neuen Mut zu fassen. Gemeinsam mit den Tierheimmitarbeitern haben sie nach einer Lösung gesucht, denn Anton liegt ihnen – trotz der Vorfälle – wahnsinnig am Herzen und sie wollen den weiteren Weg mit ihm gemeinsam gehen. Das Tierheim hat zwischen Herrchen und einem unserer vertrauten Hundetrainer vermittelt, von dem sie nun professionelle Unterstützung bekommen.
Auch wurde nahegelegt, Anton medizinisch komplett durchchecken zu lassen.
Seit Donnerstag, den 13.02., ist Anton nicht mehr im Tierheim, sondern in seinem vertrauten Zuhause.

Wir wünschen ihm und seinen Menschen alles Glück der Welt und drücken ganz fest alle Daumen, dass sie zukünftig einen guten Weg für das gemeinsame Zusammenleben finden werden.